Barrierefreier Zugang zu Produkten und Dienstleistungen - Neue Herausforderungen für Unternehmen | Fieldfisher
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Barrierefreier Zugang zu Produkten und Dienstleistungen - Neue Herausforderungen für Unternehmen

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Haben Sie schon vom sog. European Accessibility Act (Richtlinie (EU) 2019/822, "EAA"), dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) oder der dazugehörigen Verordnung (BFSGV) gehört? 

Die Regelungen treten in Deutschland am 28. Juni 2025 in Kraft. Scheinbar also noch viel Zeit, sich damit zu beschäftigen. Das BFSG beinhaltet jedoch einige Herausforderungen für betroffene Unternehmen, die sowohl kosten- als auch zeitintensiv sein können. Daher sollte das Thema jetzt angegangen und rechtzeitig Maßnahmen eingeleitet werden, um negative Folgen zu vermeiden. Betroffen ist unter anderem nahezu der gesamte Onlinehandel.

Worum geht es bei der Barrierefreiheit?

In Europa leben über 87 Millionen Menschen mit einer Form von körperlicher, geistiger, intellektueller oder sensorischer Behinderung. Das heißt jeder fünfte Europäer ist betroffen. Der europäische Gesetzgeber hielt es daher für wichtig, EU-weite Mindestanforderungen an den barrierefreien Zugang zu einer Reihe von Produkten und Dienstleistungen festzulegen, um zum reibungslosen Funktionieren des Binnenmarktes beizutragen und die soziale Teilhabe von Menschen mit Behinderungen sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor zu erhöhen. Dies führte im Jahr 2019 zur Verabschiedung des European Accessibility Act (Richtlinie (EU) 2019/822, "EAA"), der 2021 durch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) und 2022 durch die zugehörige Verordnung (BFSGV) in deutsches Recht umgesetzt wurde.

Welche Unternehmen sind betroffen?

Alle Wirtschaftsakteure, d. h. Hersteller, Bevollmächtigte, Einführer, Händler oder Dienstleistungserbringer, die im B2C-Verkehr mit betroffenen Produkten handeln oder Dienstleistungen erbringen müssen die neuen Vorgaben erfüllen. Ausgenommen sind (nur!) im Dienstleistungsbereich sog. Kleinstunternehmen, d. h. Unternehmen, die weniger als zehn Personen beschäftigen und entweder (i) einen Jahresumsatz von höchstens 2 Millionen Euro erzielen, oder (ii) deren Jahresbilanzsumme sich auf höchstens 2 Millionen Euro beläuft.

Welche Produkte und Dienstleistungen werden erfasst?

Erfasst werden o. g. Wirtschaftsakteure nur dann, wenn sie mit folgenden Produkten handeln oder folgende Dienstleistungen erbringen:

Produkte
Dienstleistungen  

Hardwaresysteme für Universalrechner für Verbraucher inkl. Betriebssysteme (z. B. Computer)

Telekommunikationsdienste (Telefonie, Messenger etc.)

Selbstbedienungsterminals (z. B. Fahrausweis- und Geldautomaten)

Elemente der Personenbeförderungsdienste wie beispielsweise Webseiten, Apps oder elektronische Ticketdienste.

Interaktive Verbraucherendgeräte, die für Telekommunikationsdienste gebraucht werden (z.B. Smartphones)

Bankdienstleistungen

Interaktive Verbraucherendgeräte, die für den Zugang zu audiovisuellen Medien verwendet werden (z.B. interaktive Fernseher)

E-Book-Software

E-Book-Lesegeräte

Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr mit Verbrauchern (d. h. der gesamte Onlinehandel, aber auch bloße Online-Termin-Buchungs-Tools).

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Welche Anforderungen stellen BFSG und BFSGV?

Erfasste Produkte und Dienstleistungen müssen barrierefrei zur Verfügung gestellt werden. Dies ist der Fall, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Die konkreten Anforderungen an die Barrierefreiheit für Produkte und Dienstleistungen bestimmen sich nach der BFSGV.

1.  Anforderungen an Produkte und Dienstleistungen

Die BFSGV definiert eine Vielzahl allgemeiner und besonderer Anforderungen:

In allgemeiner Hinsicht werden Anforderungen an die Funktionalität von Produkten, an Informationen über Produkte, Produktverpackungen und Anleitungen sowie die Funktionsweise von Dienstleistungen gestellt. Generell müssen alle genannten Elemente insbesondere:

  • über mehr als einen sensorischen Kanal verfügbar bzw. Produkte insoweit steuer- und bedienbar sein,
  • für Verbraucher verständlich und wahrnehmbar dargestellt werden, und
  • eine angemessene Schriftgröße, Kontrast und Abstand zwischen Buchstaben, Zeilen, etc. aufweisen.
  • Informationen zur Produktverpackung (Öffnen, Entsorgung usw.) sind zudem, wenn möglich, auf der Verpackung selbst anzubringen.
  • Außerdem sind z. B. Webseiten, Apps, usw. zusätzlich auf konsistente und angemessene Weise wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust zu gestalten.

Darüber hinaus gelten weitere branchenspezifische Anforderungen für einzelne Produkte, so etwa für Selbstbedienungsterminals, E-Books und interaktive Verbraucherendgeräte.

Dasselbe gilt für bestimmte Dienstleistungen, so etwa für Telekommunikationsdienste, Personenbeförderungsdienste, Bankdienstleistungen und insbesondere den elektronischen Geschäftsverkehr. Für letzteren ist bspw. zusätzlich vorgesehen, dass Identifizierungs-, Authentifizierungs-, Sicherheits- und Zahlungsfunktionen, wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust zu gestalten sind.

1.1.  Vermutungswirkung harmonisierter Normen und technischer Spezifikationen

Ob Produkte oder Dienstleistungen tatsächlich den an sie gestellten Anforderungen entsprechen, wird im Einzelfall trotz bzw. gerade wegen der o. g. Begrifflichkeiten oftmals unklar bleiben. So wird beispielsweise nicht weiter definiert, anhand welcher Kriterien beurteilt wird, ob Informationen einfach verständlich oder wahrnehmbar dargestellt worden sind.

Von den daraus resultierenden Risiken können sich betroffene Wirtschaftsakteure, insbesondere Hersteller und Dienstleistungserbringer, in gewissem Maße entlasten, wenn ihre Produkte oder Dienstleistungen harmonisierten Normen bzw. (durch die Kommission festgelegten) technischen Spezifikationen oder jeweils Teilen davon entsprechen. Ist dies der Fall, wird, allerdings widerleglich, vermutet, dass sie die Anforderungen der BFSGV erfüllen, soweit diese Anforderungen von den betreffenden Normen /Spezifikationen oder Teilen davon abgedeckt sind. Jedoch müssen Wirtschaftsakteure, insbesondere Hersteller  und Dienstleistungserbringer darauf achten, dass sie verpflichtet sind, Änderungen der Normen/Spezifikationen oder Mängel derselben zu überwachen. Somit kann die Einhaltung von Normen/Spezifikationen nur ein bedingtes Maß an Sicherheit bieten.

1.2.  Weitere Dokumentations- und Informationspflichten

Über die genannten inhaltlichen Vorgaben hinaus bestehen gem. den Anlagen 2 und 3 zum BFSG für Produkte und Dienstleistungen auch Dokumentations- bzw. Informationspflichten über die Einhaltung der Anforderungen des BFSG und der BFSGV.

Für Produkte müssen insbesondere Hersteller gem. § 6 Abs. 1 Nr. 2 BFSG iVm Anlage 2 zum BFSG technische Dokumentationen erstellen, aus denen sich die Einhaltung der Anforderungen der BFSGV ergibt. Der Mindestinhalt wird in Anlage 2 aufgelistet.

Dienstleister müssen gem. § 14 Abs. 1 Nr. 2 BFSG iVm Anlage 3 zum BFSG in ihren AGB oder auf andere deutlich wahrnehmbare Weise angeben, wie sie die Barrierefreiheitsanforderungen der BFSGV erfüllen. Der Mindestinhalt wird in Anlage 3 aufgelistet.

2.  Ausnahmen bei Wesensveränderung und unverhältnismäßiger Belastung

Zwei Ausnahmen gelten gem. §§ 16, 17 BFSG für die Umsetzung der gesetzlichen Anforderungen, wenn

  • die Einhaltung der gesetzlichen Anforderungen eine wesentliche Veränderung des Produkts oder der Dienstleistung erfordert, die zu einer grundlegenden Veränderung der Wesensmerkmale führen würde, und/oder
  • Wirtschaftakteure durch die Umsetzung unverhältnismäßig belastet würden, wobei die spezifischen Beurteilungskriterien in Anlage 4 zum BFSG ausgeführt werden (bspw. Nettoumsetzungskosten gegenüber Gesamtkosten des Produkts oder der Dienstleistung).
     

Welche Konsequenzen drohen bei Nichteinhaltung der neuen Vorgaben?

Werden die Vorgaben nicht korrekt eingehalten, drohen gem. § 37 BFSG Bußgelder bis zu 100.000 EUR. Daneben sind gem. §§ 23 Abs. 3, 30 Abs. 3 BFSG Untersagungsverfügungen und gem. §§ 22 Abs. 4, 26 Abs. 3 BFSG Verpflichtungen zum Produktrückruf möglich. Berechtigt, Verfahren einzuleiten, sind gem. §§ 32, 33 BFSG auch Verbraucher selbst und Verbraucherverbände.

Zusätzlich stehen Wettbewerbern die Rechtsbehelfe des Wettbewerbsrechts offen.

Überdies kann ein Verstoß gegen die Barrierefreiheit bei Produkten auch die Einordnung als Sachmangel iS des Gewährleistungsrechts nach sich ziehen, da die diesbezüglichen Regelungen definieren, was ein Verbraucher objektiv von den betroffenen Produkten erwarten kann, § 434 Abs. 3 BGB. Gerade im Bereich der Sachmangelhaftung ist daher auch bei Ausnahmen auf die Regelungen des Verbrauchsgüterkaufrechts zu achten, wonach negative Abweichungen von der objektiven Beschaffenheit (negative Beschaffenheitsvereinbarungen) einer eigenständigen Information und einer ausdrücklichen und gesonderten Vereinbarung bedürfen, § 476 Abs. 1 BGB.

Welche Schritte sind nun erforderlich?

In Anbetracht der umfangreichen Anforderungen, die das BFSG und die BFSGV für die betroffenen Produkte und Dienstleistungen aufstellt und der möglichen Konsequenzen sollten die Unternehmen das Thema "Barrierefreiheit der angebotenen Produkte und Dienstleistungen" zeitnah angehen. Neben der Umsetzung dürften auch die Dokumentationspflichten zu einigem Aufwand führen. Juni 2025 ist vor diesem Hintergrund nicht mehr weit entfernt. Kontaktieren Sie uns gerne, wenn Sie Fragen haben oder wir Sie bei der Umsetzung unterstützen können.